Reine Form und innere Melodie

November 2023

Das Glashaus gäbe es nicht ohne das Schloss Derneburg und das Schloss Derneburg nicht ohne das Kloster Derneburg. Fast 700 Jahre haben hier Nonnen und Mönche gelebt und gearbeitet. Und was haben die Nonnen und Mönche gemacht? Natürlich gebetet, aber vor allem haben sie Schriften und Bücher kunstvoll kopiert. Solange, bis Johannes Gutenberg um 1450 den Buchdruck erfand. Damit haben wir eine direkte Beziehung zur Ausstellung von Claudia Dzengel. Sie ist keine Nonne und sie kopiert auch keine Bücher, aber sie bringt die Kunst des Schreibens mit ihrer Kalligraphie wieder zurück nach Derneburg.

Bei dem ersten Blick auf ihre Arbeiten kommt die Frage auf: „Schreibt Claudia Dzengel noch oder malt sie schon?“. Natürlich schreibt eine Kalligraphin, aber auf ihren Bildern bewegen sich zarte Blumen im Wind, Vögel fliegen durch die Luft, wilde Landschaften breiten sich aus, eine Dornenhecke greift um sich und Formen explodieren. Trotzdem ist fast alles Schrift und Buchstabe. Claudia Dzengel schreibt mit den unterschiedlichsten Werkzeugen, zum Beispiel mit dem Stängel der Wilden Möhre. Auf dem gleichnamigen Bild ist die Blütenpracht der Wilden Möhre malerisch auf das Papier getupft. Bei genauem Hinsehen tauchen dann doch feinste Schriftzüge auf, die als langgezogene Wörter den Halm der Pflanze formen.

Natürlich kann man sich lesend durch die Ausstellung bewegen und Gedichte von Rainer Maria Rilke und Mascha Kaléko, Rätsel von Markus Köhle oder eine Geschichte des Katers Kasimirs genießen. Gedanken wie „Where is my time I need to write“ werden in Serie gestaltet, die Eigenschaften einer ganzen Stadt in einzelne Worte gefasst, Assoziationen zum Begriff „Diversitiy“ aneinandergereiht und vieles mehr. Viele Wörter erschließen sich aufgrund einer freien Schriftweise nicht leicht, müssen erst entziffert werden, wenn sie sich überlagern und durchdringen.

Doch das Lesen von Inhalten ist nicht die vorrangige Aussage der Kalligraphie von Claudia Dzengel. Auch wenn in fast jedem Bild ein literarischer Inhalt steckt, es geht vielmehr darum, wie dieser Inhalt als grafisches Bild gestaltet wird. Am besten wird das in einem Video deutlich, in dem Claudia Dzengel mitten in einer Musik-Performance mit Mieze Medusa & Band das Papier beschreibt. Dabei stehen Rhythmus und Musikalität im Vordergrund, die Buchstabe für Buchstabe auf ihre Arbeit übertragen werden.

Rhythmus und Musikalität ist das Grundgerüst jeder Poesie, was vor allem dann hörbar wird, wenn ein guter Sprecher die Werke spricht. Wenn Rolf Boysen Homers Ilias liest, dann erschließt sich der Text viel leichter in seiner ganzen Schönheit und Tiefe. Und genau das passiert in jeder Arbeit von Claudia Dzengel. Doch es geht dabei weniger um Verstand und Verstehen, sondern mehr um Gefühl und Fühlen.

Der Aufschrei der Künstlerin „Where is my time I need to write“, eine Art der Schaffenskrise, wird gleich in 3 Bildern in Schrift und Form umgesetzt. Der fette schwarze Satz wird von großen Zeichen in grauer Pinselschrift überlagert, darunter ein Gewirr von dünnen, aus dem Bild herauslaufenden Schriftreihen. Man sieht den Ausdruck der Energie und der Verdichtung aber auch viel freien Raum über dem aus Sprache zusammengesetzten Gefühl der Enge und der Überforderung.

Lustig geht es in den bildlich verschrifteten Worträtseln zu. „Was ist blind und schwimmt unter der Erde?“ oder „Was ist gut für die Erde und kann fechten?“. Die bildliche Lösung der an unlösbare Koans erinnernden Sätze von Markus Köhle bringt Claudia Dzengel in Anlehnung an konkrete Poesie in wunderschönen Kompositionen auf das Papier.

In jedem Bild verbindet Claudia Dzengel den geschriebenen Inhalt mit seiner bildlichen Form. Oder in ihren Worten gesagt: „Buchstaben sind praktische und nützliche Zeichen, aber ebenso reine Form und innere Melodie“. Wenn sie mit Tusche aus dem Kalisalzgestein Sylvinit und Halit gelb-goldene Farben erzeugt, dann benutzt sie Wörter aus dem Kaliabbau in Bad Salzdetfurth, ihrer Heimatstadt. In der Auftragsarbeit „Sprudel“ soll das Schriftbild, das an eine verschlungene Hecke erinnert, auf eine große Mauer einer Kurstadt projiziert werden. Das Wörterknäuel vermischt in einzelnen Begriffen die gegenwärtigen und geschichtlichen Aspekte dieses Ortes.

Spielend bewegt sich Claudia Dzengel zwischen bedeutender Literatur und alltäglicher Wahrnehmung. In ihren Arbeiten macht das keinen Unterschied, denn der auf das Papier gebrachte Ausdruck ist immer voller Schönheit und Poesie. Auch wenn es um die Erinnerung an ihren Kater Kasimir geht. Der Text über das Schlafen und Fressen des Katers ist wie eine Endlosschleife zu lesen und ist eine Liebeserklärung an den tierischen Mitbewohner, dessen dicker Schriftzug mit dem feinen Text wie ein schönes Denkmal gesehen werden kann.